Unser Verlangen nach Nähe zur Stadt hält sich sehr in Grenzen; wir wollen so lange wie möglich an der Nordseite des Diabas bleiben, fernab der Zivilisation. Den Tag, an dem wir zwischen den Bergen hindurch wandern und wieder am Adventfjord ankommen – mit Blick auf Longyearbyen, Flughafen und Campingplatz – wollen wir noch etwas hinauszögern.
Aber auch wenn wir nicht unbedingt weiter mĂĽssen, rumsitzen wollen wir auf gar keinen Fall.
In der Praxis heißt das: Nach dem Frühstück die Rucksäcke packen, das Lager zusammenräumen und alles hinunter zur Küste des Elveneset tragen. Dort deponieren wir das schwere Marschgepäck und machen uns mit einem kleinen Tagesrucksack auf den Weg in Richtung Osten, nach Vindodden.
Nur mit Regenjacken, Müsliriegeln und Trinkwasser im Gepäck läuft es sich deutlich angenehmer – und vorwärts kommt man auch besser. So hatten wir uns das mit der Entspannung vorgestellt.
Immer mal wieder haben wir auf unseren vergangenen Touren und dem Weg hierher die kleinen Holzhütten der Norweger gesehen oder sind direkt an ihnen vorbei gelaufen. Viele stehen mitten im Nichts, sind nur im Winter komfortabel zu erreichen, wenn das Land mit einer geschlossenen Schneedecke überzogen ist und mit Schneemobilen befahren werden darf. Vindodden hingegen ist einer der wenigen Flecken, an denen die Wochenend- und Ferienhäuschen gehäuft zu finden sind. Man kann schon fast von einer kleinen Siedlung sprechen.
Verständlich, denn hier ist es wirklich traumhaft schön. Und die Lage direkt an der Küste hat einen großen Vorteil im Gegensatz zu den Häusern in den Tälern: Sie sind von Longyearbyen aus schnell mit einem Motorboot zu erreichen.
Am Ufer spielen Kinder, werfen Steine ins Meer und ärgern sich gegenseitig mit angespülten Algen. Dick eingepackt sitzt die Mutter der beiden auf einer Bank am Strand und wacht über ihre Zöglinge. Ein seltsames Bild: Am Strand fröhlich albernde Kinder, auf einem rustikalen Tisch Limo-Becher – und direkt daneben ein großes Pistolenholster aus Leder, stilbewusst mit Fellbesatz und schicker Schließe.
Dass es ohne nicht geht ist klar, schließlich tragen wir auch einige Kilo Metall zur Beförderung von portioniertem Schießpulver mit uns herum. Aber der Anblick einer Waffe, bei der man sich fragt wie die zierliche Norwegerin sie überhaupt abfeuern will, direkt neben Limo-Bechern wirkt auch nach Wochen ständiger Pistolen- und Gewehrpräsenz sehr befremdlich.
Die Norwegerin verbringt das Wochenende zusammen mit ihren Kindern am Vindodden. Sie ist etwas verwundert über unseren Besuch, fragt neugierig wo wir denn herkommen. In diese Ecke des Landes verschlägt es Wanderer wohl nicht sehr häufig. Und schon gar nicht ganz ohne großes Gepäck. Ganz beiläufig erzählt die junge Frau von dem Eisbär, der einen Tag vor unserem Aufbruch im Adventdalen gesehen wurde. Und fügt hinzu, dass wenig später ein zweiter gesehen worden sei – exakt in dem Gebiet, das wir seit knapp einer Woche durchwandern. Mit großen Augen gucken wir uns an, haben wohl den gleichen Gedanken und zucken mit den Schultern. Was sollen wir auch sonst tun – ändern können wir es jetzt eh nicht mehr. Nur darüber, ob es nun Glück oder Pech ist, den Eisbär nicht gesehen zu haben, finden wir später keine Einigung…
Gesehen hat die Norwegerin an diesem Wochenende auch noch keinen, aber man müsse „immer darauf vorbereitet sein“ sagt sie und legt ihre Hand sanft auf das fellige Holster. Na dann kann ja nichts schiefgehen.
Einige hundert Meter weiter suchen wir uns im Windschatten einer unbewohnten Hütte ein Plätzchen für eine Mittagspause. Frisch gestärkt werfen wir einen kurzen Blick ins Flowerdalen und flüchten vor dem immer ungemütlicher werdenden Wetter zurück in Richtung Elveneset.
Wie den Hinweg verbringen wir auch den Rückweg mehr schlendernd als wandernd. An das Gefühl könnten wir uns gewöhnen. Da ist es wenig verwunderlich, dass unsere Schritte mit jedem Meter, den wir der Landzunge Elveneset und damit unseren vollgestopften, schweren Rucksäcken näher kommen, langsamer werden.
Als hielte uns eine unbekannte Macht mit langen Gummiseilen zurück, stapfen wir durch die luftig nachgebende Tundra auf unser Marschgepäck zu. Alles Jammern und Stöhnen nutzt nichts – die Ungetüme werden nicht von alleine nach Diabasodden kommen.
4,5 Kilometer in 9,5 Stunden
Mit einem letzten Blick in Richtung Wasserfall ziehen wir gen Westen. Nur ein einen halben Meter neben den Wellen des Sassenfjords laufen wir am Strand entlang. Streckenabschnitte mit feinem Schotter wechseln sich mit Stücken ab, auf denen wir über massive, mannshohe Felsklötze steigen müssen. Und das alles mit irgendwas zwischen 20 und 30 Kilogramm auf dem Rücken – wir müssen verrückt sein. Aber im Grunde ist es ein gemütliches Laufen. Bis die Flut kommt.
Dabei hatten wir noch vor dem Abmarsch auf den Tidenkalender geschaut. Sollten wir uns so verschätzt haben? Der Kalender fehlerhaft? Wir schusselig? Sich darüber Gedanken zu machen, ist überflüssig – denn davon geht das Wasser auch nicht wieder weg.
Bald ist der Meeresspiegel so hoch gestiegen, dass es fĂĽr uns kein Weiterkommen gibt. ZurĂĽck kommt nicht in Frage. Bleibt nur eins: Senkrecht die Wand hinauf. Einige Meter vorher gab es eine Stelle, an der die steil gen Himmel ragenden Felsen ausgewaschen sind. Eine Chance fĂĽr uns!
Der Aufstieg ist äußerst anstrengend und kräfteraubend. Oben angekommen suchen wir hinter einem dicken Brocken Schutz vor dem Wind, essen Schwarzbrot mit guter spanischer Chorizo und fragen uns, wie lange wir wohl auf die Ebbe warten müssen. Mal schweigend, mal über ein warmes Bett und heiße Schokolade phantasierend, starren wir auf die Felsen unten an der Küste und beobachten den Meeresspiegel.
Dann kommt die Einsicht: Das bringt so nichts, wir werden auskühlen, am Ende völlig fertig mit schweren Rucksäcken die Klippe hinabpurzeln und uns alle Knochen brechen. Wir lassen uns von der Vernunft leiten, suchen ein einigermaßen ebenes Fleckchen und rollen die Isomatten aus. So sehr wir uns auch auf die Zeit ohne Stress und die genau selbigen auslösende Uhr gefreut hatten, jetzt müssen wir uns einen Wecker stellen, bevor wir in die Schlafsäcke kriechen. Die Vorstellung die Ebbe zu verschlafen und einen kompletten Tag hier verbringen zu müssen, behagt uns gar nicht.
Piep-piep-piep-piep
„Jetzt oder nie!“ Der Wecker reißt uns erst aus den Träumen, dann aus den Schlafsäcken. Unten an der Küste sind jetzt deutlich mehr Steine zu sehen als vor unserem Päuschen. Noch nicht ganz wach stopfen wir alles wieder in die Rucksäcke, schnüre die Schuhe und trinken die letzten lauwarmen Tropfen Tee aus der Thermoskanne.
Vielleicht eine halbe Stunde später stehen wir an der Stelle, die zuvor noch unpassierbar war. Jetzt könnte hier auch eine zwanzigköpfige Schulklasse entlang spazieren – nebeneinander und mit ausgestreckten Armen! Nochmal 20 Minuten später haben wir Diabasodden erreicht. Unser Zelt schlagen wir direkt am Strand auf, dort ist der Boden weich und eben, das Meeresrauschen nur wenige Meter entfernt und die Aussicht am nächsten Morgen verspricht bilderbuchhaft zu werden.
Eigentlich wollen wir nur noch schlafen. Aber mit nur ein wenig Schwarzbrot und Wurst im Magen hat der Körper garantiert nicht genug Energiereserven, um uns über Nacht warm zu halten. Wir fügen uns dem Schicksal und schluffen mit lang herunter hängenden Armen zum Bach, holen Wasser und kochen uns noch eine feine Mahlzeit. So gut hat bisher noch keine geschmeckt…
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