Tag 4, es läuft. Wasser aus dem Bach holen, die Spiritusbrenner für Tee und Kaffee in Gang bringen, Rucksäcke packen und Zelte aufräumen – die Gruppe arbeitet gut zusammen und jeder weiß, wo er anpacken muss. So ist das Frühstück in Windeseile fertig, das Lager geräumt und zur Abholung durch das Schlauchboot am Strand zwischengelagert.

Auch die zweite Nacht im Lager auf Bohemanflya bot keinen Grund zur Klage. Das beruhigende Rauschen der Wellen hat uns in den Schlaf begleitet, morgens begrüßen uns munter tschirpende Vögel beim Verlassen der Tipis.

Der obligatorische Blick auf das Kartenblatt der Umgebung zeigt: Uns erwarten rund zehn Kilometer Strecke, gipfelwärts durch einen Taleinschnitt, talwärts über einen Gletscher. In der Bucht Yoldiabukta wird der Motorsegler auf uns warten und uns zum nächsten Lagerplatz bringen.

Über den Boden kann man sich, nach der Tundra-Tortur am Vortag, wahrlich nicht beschweren. Er ist fest und trocken, die einzige Schwierigkeit besteht darin, zwischen dutzenden kleinen Süßwasserseen einen Weg zu finden, der uns nicht zu weit von unserer Wunschrichtung abbringt. Zum Auffüllen der Trinkwasserflaschen sind die Seen leider gänzlich ungeeignet: Algen und Schaum am Ufer sprechen nicht gerade für die Qualität des Wassers, vielmehr deuten sie auf gut frequentierte Gänse- und Rentiertränken hin.

Nach einer guten Stunde treffen wir schließlich auf den ersten sauberen Bach. Das Wasser schmeckt seltsam. Zuerst ist es nur schwer zuzuordnen, bis wir drauf kommen: Eisen. Hinter dem nächsten Hügel sehen wir unsere Vermutung bestätigt: Ein rostrotes, beinahe orangefarbenes, ausgetrocknetes Flussbett sticht deutlich aus dem sonst graubraunen Einerlei des Spitzbergen-Bodens heraus.

Am Fuß des angesteuerten Berges angekommen, machen wir das nächste Etappenziel aus: eine Steingruppe auf dem Bergrücken. Die Schuhe werden nochmal nachgeschnürt und Überlegungen angestrengt, wie man am einfachsten nach oben kommt – Luftlinie oder in kräfteschonenden Serpentinen.

Der Weg ist steinig, aber wenig beschwerlich. Dutzende Einschnitte in den Berg, oft mit Schnee- und Eisfeldern gefüllt oder von Schmelzwasserbächen tief in den Fels geschnitten, zwingen uns zu mehr Umwegen als erwartet. Die Rentiere haben es da deutlich einfacher: Sie laufen einfach quer über das Eis, wie Spuren eindeutig belegen.
Wir scheuen jedoch das Risiko abzurutschen oder gar einzubrechen und nehmen dafür die kleinen Umwege gerne in Kauf.

Die ins Visier genommene Steingruppe lassen wir links liegen und suchen uns ein gemütliches Plätzchen: Mittagspause. Direkt in Sichtweite eines Felsens, dessen Risse von nistenden Vögeln in Beschlag genommen wurden, packen wir Thermosflaschen, Schokolade und Knäckebrot aus. Für den nun kommenden Aufstieg über einen kleinen Gletscher können wir die Stärkung gut gebrauchen. Dass nur einen Steinwurf von unserem Rastplatz entfernt vor einigen Jahren ein bedeutender Dinosaurierknochen-Fund gemacht wurde, hätten wir uns nicht in unseren kühnsten Träumen vorgestellt. „Direkt unter einem Platz, den wir jahrelang zum Zelten genutzt haben“, plaudert Guide Nicola aus dem Nähkästchen. Dass auf Spitzbergen solche Funde gemacht werden, sei keine Seltenheit. Jahrtausendelang seien sie unter dem Geröll versteckt, bis Frost und abrutschendes Gestein sie freilegen. Die Frage ist dann nur, wie lange es dauert, bis ein Mensch sich dorthin verirrt – und den Fund auch meldet.

Nur vom Wind und dem Rauschen eines kleinen Baches begleitet, haben wir die Möglichkeit, die natürliche Stille und traumhafte Aussicht zu genießen. Bis plötzlich jemand zusammenzuckt: Aus dem Nichts taucht völlig unerwartet ein Schneehuhn nur wenige Schritte entfernt von uns auf. Die hellbraun gefiederten Tiere sind sehr scheu, vertrauen aber auf ihre perfekte Tarnung. So bleiben sie regungslos zwischen den Steinen sitzen, bis die Gefahr vorüber ist. Erst wenn man beinahe auf sie tritt, ergreifen sie die Flucht.

Der „kleine Gletscher“, den wir erwartet hatten, entpuppt sich als Mini-Schneefeld. Viel ist von dem einstigen Eisriesen nicht mehr übrig. Wir müssen für den Aufstieg nicht einmal unsere Steigeisen anziehen.
Dafür ist der Abstieg auf der anderen Seite des Berges umso spannender: Laufen wir am oberen Rand noch über einer dicke Schicht Schnee und Eis, glauben wir nur wenige hundert Meter weiter das sichere, weil nicht mehr rutschige, Steinfeld erreicht zu haben – bis es uns dann vom einen auf den anderen Schritt beinahe die Füße wegzieht. Der Gletscher ist gar nicht so weit abgetaut, abgerutschtes Geröll verdeckt nur weite Teile davon. Wohl dem, der dem Ratschlag „Lasst die Steigeisen ruhig noch an“ gefolgt ist …

Je tiefer wir ins Tal vordringen, desto matschiger wird das Gelände. Aus kleinen Schmelzwasserrinnsalen werden Bäche, aus Bächen werden reißende Matschrutschen – nicht besonders breit, aber mit einer Fließgeschwindigkeit, die uns Respekt einflößt. Anderswo verschlingen solche Muren (zugegebenermaßen in anderen Dimensionen) mit ihren ins Tal schießenden Schlammmassen ganze Dörfer, reißen alles mit, was ihnen im Weg steht. Da wir sie nicht überspringen können, entscheiden wir uns abermals für einen kleinen Umweg. Und der hat neben dem Vorteil, den Muren aus dem Weg zu gehen, noch einen weiteren: Am Rand des Gletschers können wir an mehreren Stellen direkt unter die dicke Eisschicht blicken – beeindruckende Einsichten in eine völlig andere Welt. Eiskalt, stockdunkel und höllisch laut. Mit tosendem Rauschen frisst sich das Schmelzwasser, das kurz unter dem Gipfel nur ein kleines, gurgelndes Rinnsal war, unter dem Gletscher hindurch.

Das Tagesziel, die Bucht Yoldiabukta, konnten wir schon seit dem frühen Nachmittag sehen – aber zwischen uns und dem traumhaften Strand lag, direkt nach dem Gletscher, auch noch ein breites und langes Matschfeld. Und genau das liegt jetzt vor uns. Wem etwas an seinem Schuhwerk liegt, der wählt seine Schritte gut. Oder wechselt auf Gummistiefel.
Zwei Kilometer, über den Rücken einer Moräne und durch das erwähnte Matschfeld, das kann ja nicht mehr so schlimm sein. Denken wir. Und werden überrascht, welche Saugkraft Erde in Kombination mit Wasser ausüben kann – ganz ähnlich unserer Erfahrung in der Tundra.
Kurz vor dem Strand nutzen wir die letzten Ausläufer einigermaßen klarer Süßwasserbäche, um unsere Steigeisen zu reinigen.

Den Kapitän des Motorseglers hatten wir schon auf halber Strecke angefunkt, so dass sich die Wartezeit in Grenzen hält. Und mal ehrlich: Auch wenn einige von uns geschafft und müde sind – bei strahlendem Sonnenschein, mit dem Blick auf einen Gletscher und großen Eisbergen direkt vor uns verfliegen die wenigen Minuten rascher als uns lieb ist.

Der Rest ist Routine: Rein ins Schlauchboot, raus aus dem Schlauchboot, kurz mit dem Schiff übersetzen. Rein ins Schlauchboot, raus aus dem Schlauchboot. Zelte aufbauen, kochen, seelig einschlafen.

God natt & sov godt!

Tag 4
Zurückgelegte Entfernung: 11,6 Kilometer
Benötigte Zeit: 6 Stunden

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