Nachdem wir den gestrigen Tag an Bord des Motorseglers verbrachten, haben wir fĂŒr heute ein straffes Programm vor uns. Unser Plan ist es, von Lyckholmdalen bis zur stillgelegten russischen Siedlung Pyramiden zu laufen. Auf der Karte lĂ€sst sich nicht genau sagen, wie weit der Weg ist. Nimmt man die Luftlinie, sind es knapp 21 Kilometer. Wir werden also eine Weile unterwegs sein.

Das Wetter ist, im Gegensatz zum Vortag, gut. Der Himmel ist klar und es ist windstill. Wie immer verladen wir die schwere AusrĂŒstung auf den Motorsegler, dieser wird Pyramiden auf dem Seeweg ansteuern und im dortigen Hafen auf uns warten. Der KapitĂ€n veranschlagt fĂŒr die Überfahrt sieben Stunden – eine Herausforderung, die wir natĂŒrlich gerne annehmen. Wir werden versuchen, vor ihm am Ziel zu sein.

Die ersten Kilometer fĂŒhren uns durch ein mehrere hundert Meter breites Tal, das sich zwischen gigantischen Felsmassiven hindurch schlĂ€ngelt. Wir wĂ€hlen unsere Route am Fuß der Berge entlang, dort gibt es weniger FlĂŒsse, die gequert werden mĂŒssen. Immer, wenn wir mehrere TĂ€ler zur Durchquerung zur Auswahl haben, werfen wir einen kurzen Blick auf die Karte. Weiter geht es getreu dem Motto: „An der nĂ€chsten Kreuzung rechts“ oder jemand imitiert ein NavigationsgerĂ€t mit „In acht Kilometern links abbiegen“.
Nach etwa zwei Stunden machen wir eine kurze Pause vor einer steilen Felswand, in dessen Sedimentspalten Eissturmvögel nisten. Hoch ĂŒber unseren Köpfen sind ihre Gelege sehr gut vor NestrĂ€ubern geschĂŒtzt – und das ist auch gut fĂŒr die NestrĂ€uber, denn von unserem Guide Nicola erfahren wir, dass Eissturmvögel eine stark Ă€tzende FlĂŒssigkeit ausspucken können. Eissturmvögel sorgen sehr lange fĂŒr ihre Jungen. Sie werden so lange versorgt, bis sie auffallend fett sind. Die Jungvögel bleiben auch deutlich lĂ€nger im schĂŒtzenden Nest, als das bei anderen Vogelarten der Fall ist. So sind sie optimal auf das (Über-)Leben im Isfjord vorbereitet.

Weiter geht es fĂŒr uns durch Rinddalen, ein sehr schmales und felsiges Tal, durch das ein breiter Gletscherbach fließt. Zu beiden Seiten des Bachs geht es steile Geröllhalden bergauf. Bei jedem Schritt mĂŒssen wir aufpassen, denn nicht alle Steine sind trittsicher. Das Geröll auf Spitzbergen ist hĂ€ufig scharfkantig wie Vulkangestein. Das zieht nicht nur die Schuhe massiv in Mitleidenschaft, bei einem Sturz kann es schnell zu Verletzungen von Haut und Knochen kommen. Es ist daher empfehlenswert, bei solchen Kletteraktionen Handschuhe zu tragen, damit man sich im Fall eines Sturzes abfangen kann, ohne sich an den HĂ€nden zu schneiden.
Soviel zur Theorie …

Irgendwann passiert, womit wir schon seit Beginn unseres Aufenthalts gerechnet haben: Jemand stĂŒrzt, die Steine, an denen er versucht, sich festzuhalten, sind rau und scharfkantig und natĂŒrlich trĂ€gt der Stolpervogel keine Handschuhe, obwohl er wenige Minuten zuvor noch darĂŒber nachgedacht hat, diese anzuziehen …
Ich lerne auf die harte Tour, dass die 600 Gramm schwere Erste-Hilfe-Tasche, die seit Wochen im Rucksack schlummert, eine lohnende Investition war. Beim Sturz habe ich mir einen Schnitt zugezogen. Die Verletzung ist nicht lebensbedrohlich, blutet aber ganz ordentlich. SĂ€ubern, WundrĂ€nder desinfizieren, Verband anlegen – natĂŒrlich alles in Hanglage. Nach der kurzen (unfreiwilligen) Pause geht es sofort weiter, schließlich haben wir noch etwa 15 Kilometer Wegstrecke vor uns.

Das Wetter wird in den nĂ€chsten Stunden stetig schlechter. Wir werden von einer Nebelwand verfolgt und bei jeder kurzen Verschnaufpause fĂ€ngt es nach etwa zwei Minuten an zu nieseln. Wenige Stunden spĂ€ter erreichen wir Pyramiden, die verlassene russische Kohlebergbau-Siedlung im Zentrum Spitzbergens. Nach 27 Kilometern Fußmarsch durch unwegsames GelĂ€nde haben wir unser Tagesziel nach zehn Stunden endlich erreicht.

Nach einer kurzen Runde durch die seit 1998 verlassene Siedlung soll uns der Motorsegler nach Petuniabukta bringen, wo wir unser Lager aufschlagen werden. 40 Minuten brauchen wir fĂŒr die Überfahrt, dann stellt sich jedoch heraus, dass der Seegang ein Übersetzen mit dem Schlauchboot unmöglich macht. Das Risiko zu kentern ist zu groß und in dem eiskalten Wasser sind die Überlebenschancen sehr gering. Die Rettungsweste hĂ€lt einen im Notfall zwar ĂŒber Wasser, aber die Faustregel, die wir in den letzten Tagen schon oft gehört haben, lautet: Überleben kann man in dem eiskalten Wasser nur rund drei Minuten.

Es bleibt also nur eins: Kehrtwende und zurĂŒck in den sicheren Hafen Pyramidens. Der Sturm wird immer stĂ€rker und wir benötigen eine halbe Ewigkeit fĂŒr den RĂŒckweg. Unsere MĂ€gen haben sich inzwischen an den starken Wellengang gewöhnt, ein Fiasko wie am Vortag bleibt uns heute zum GlĂŒck erspart.
ZurĂŒck in Pyramiden können wir unsere Zelte nicht aufbauen, daher schlafen wir zwei auf dem Schiff und ein Teil in GĂ€steunterkĂŒnften im Hafen.

Tag 7
ZurĂŒckgelegte Entfernung: 27 Kilometer
Benötigte Zeit: 11 Stunden

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Ein Kommentar zu “Der lange Marsch nach Pyramiden”

  1. Peter sagt:

    Zwischen den Koordinaten von Euch und den Koordinaten auf meinem Balkon liegen genau 3128 km.
    Gruss Peter